Mia blies die letzte Kerze aus und starrte aus dem Fenster in den Wald hinein. Absolute Stille. Der Himmel war wolkenverhangen und fahles Mondlicht ließ nur noch Schatten am Horizont erkennen. Sie kamen. Das wusste sie. Sie war alleine und schutzlos. Lautlose Jäger auf leisen Pfoten. Sie bemühte sich nicht mehr, wegzulaufen oder sie zu bekämpfen. Sie war so weit gekommen und doch hatte sie verloren. Schon wieder.
Ein schriller Schrei durchfuhr die Nacht.
„Ist alles in Ordnung, Schatz?“, fragte Mike.
Müde richtete sich Mia im Bett auf und sah sich um. Im Dunklen konnte sie die Silhouetten ihrer Möbel erkennen und die Vorhänge flatterten ein wenig im Wind des dahinter gekippten Fensters.
„Hast du wieder schlecht geträumt? Komm her zu mir“, flüsterte Mike und nahm sie in den Arm. Tränen liefen ihr heiß über die Wange, doch sie traute sich nicht, laut zu schluchzen. Er sollte nicht wissen, wie einsam sie sich fühlte, obwohl er an ihrer Seite war. Die Träume, die sie nachts einholten, schienen realer als ihr Leben selbst. Und in ihren Träumen war sie ganz alleine, auf der Flucht vor ihnen. Sie wusste nicht, wer sie waren, sie wusste nur, dass diese Kreaturen sie nicht einholen durften.
Der Traum war immer derselbe: Mia befand sich auf einer kleinen Insel am Strand. Die Sonne ging unter und sie wurde gejagt, über den Strand, durch die Dünen und durch die Wälder. Sie wachte jedes Mal auf, bevor die Jäger sie fast eingeholt hatten und jede Nacht kam sie auf der Insel weiter voran. Mittlerweile hatte sie einen Unterschlupf gefunden: einen alten, maroden Leuchtturm am Waldrand. Anfangs schien dieser sicher zu sein, doch in diesem Traum hatten die Jäger sie in ihrem Versteck gefunden. Mia brauchte eine neue Taktik.
06:00h und der Wecker schlug Alarm. Gerädert von der unruhigen Nacht stand Mia auf schlurfte ins Badezimmer. Nach einer heißen Dusche und einem anschließenden Kaffee fühlte sie sich gleich viel besser. Mike schlief noch, er arbeitete im Homeoffice und stand auf, wann immer es ihm passte. Mia hingegen musste um 07:30h auf der Arbeit erscheinen, motiviert und ausgeruht.
Sie schnappte sich ihre Thermoskanne und verschwand durch die Haustür in den kalten Novemberregen.
Mia verpasste die Tram ganz knapp, die Türen schlugen vor ihrer Nase zu und sie musste weitere zwanzig Minuten im Regen stehen. Also würde sie erneut zu spät kommen. Als die nächste Tram endlich ankam, war sie bis auf die Knochen nass und durchgefroren. Im Büro wurden ihr nur mitleidige Blicke zugeworfen. Sie mochte ihre Kolleginnen allesamt nicht. Mia bezeichnete sie gerne als oberflächliche Schnepfen, doch in Wahrheit beneidete sie diese. Sie waren alle stylisch gekleidet, trugen ein markelloses Make-Up und hatten die perfekten Figuren. Mia empfand sie wie am Computer nachbearbeitet. Sie verschwand schnell auf das Damen WC und betrachtete sich im Spiegel. Ihre kurzen, dunklen Haare klebten nass in ihrem Gesicht und ihr spärliches Makeup war verlaufen.
Schnell wischte sie die Tränen, das Make-Up und die Haare aus dem Gesicht, wrang ihren Pullover aus und setzte sich an ihren Schreibtisch, der voller Zettel und Aufgaben überzuquellen schien. Ihre Kolleginnen gaben gerne ungewollte Aufgaben an Mia ab, sie war darüber zwar nicht froh, aber wenn sie die Aufgaben erledigte, wurde sie zumindest in Ruhe gelassen. Und das war es, was Mia wollte: in Ruhe gelassen zu werden. Es war ihr nicht wichtig, zu den Büroschnepfen dazuzugehören. Sicher, wenn sie es gekonnt hätte, hätte sie nicht nein gesagt, aber sie war zufrieden mit ihrer Rolle, so lange man sie einfach in Ruhe ließ. Also schaltete Mia den PC an und versank in ihrer Arbeit.
Mia saß am Strand und starrte in die ungezähmte raue See. Die Wellen schlugen hart gegen die Bohlen und die Gischt schäumte auf wie ein tollwütiges Tier, das bereit war, alles Leben auszulöschen. Die schwarzen Wolken hingen bedrohlich tief und versprachen ein heftiges Unwetter. Der Wind frischte auf und sie zog ihren olivfarbenen Parker fester zu. Der Sand peitschte ihr ins Gesicht und eine einsame Träne lief ihr heiß Wangen hinunter. Wie lange sie schon im nassen Sand saß, wusste sie nicht mehr. Minuten, Stunden, oder Tage vielleicht?
„Mia?“, ertönte eine Stimme von weiter weg. „Mia ist alles klar bei dir?“. Mia drehte sich um und ihre Kollegin Anna stand neben ihrem Schreibtisch. „Hattest du wieder einen Tagtraum? Du starrst nun schon seit 15 Minuten regungslos auf deinen Bildschirm. Denk bitte an die Deadline heute Abend!“
„So ein Mist“, ärgerte sich Mia leise. Anna verschwand wieder und Mia machte sich an ihr Reporting. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, bis die Deadline ablief und ihr Chef hatte sie sowieso schon auf dem Kieker.
Sie dachte zurück an ihren Tagtraum. An dem Strand war es so friedlich, die wohltuende Einsamkeit und keine Alltagshektik. Fast wäre sie erneut in ihren Tagtraum verfallen, aber sie riss sich zusammen und schloss das Reporting ab.
Auf dem Weg nach Hause dachte sie weiter über ihren Traum nach. Es war lange her, dass sie das letzte mal am Strand saß, und es war lange her, dass sie nur für sich war. Sie sehnte sich nach Einsamkeit und Zeit für sich selbst.
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